Die Steinflut: Eine Novelle [Taschenbuch]

Das Unfassbare der Naturgewalt Franz Hohlers Novelle «Die Steinflut» Im September 1881 zerstörte ein gewaltiger Bergsturz den östlichen Teil des Glarner Dörfchens Elm. Tagelang hatte es zuvor geregnet. Immer wieder hatten sich kleinere Gesteinsmassen vom Berg gelöst und waren krachend zu Tal gestürzt. Einige der Felsbrocken kamen den Häusern bedrohlich nahe. Dennoch harrten die meisten Dorfbewohner aus; man fürchtete wohl insgeheim das Schlimmste, aber eingestehen mochte sich die Angst kaum einer. Was manche für Furchtlosigkeit hielten, war doch nur Starrsinn und kostete (zu) viele das Leben. Im Mittelpunkt von Franz Hohlers Novelle «Die Steinflut» steht zwar das historische Ereignis, der Elmer Bergsturz von 1881, aber den Erzähler interessieren weder mögliche Ursachen noch die Zahl der Opfer oder das Ausmass der Verwüstungen. Er macht seine Leser auch nicht zu Augenzeugen einer spektakulären Naturkatastrophe: man liest zwar immer wieder von kleineren Felsabbrüchen; der eigentliche Bergsturz aber geschieht ausserhalb des erzählten Gesichtsfeldes. Man hört nur ein gewaltiges Donnern und sieht danach eine Staubwolke aufsteigen; was dann im Tal geschieht, geschehen sein könnte, imaginiert sich ein siebenjähriges Mädchen, das aus sicherer Entfernung den Bergsturz überlebt und ahnt, dass unter den Opfern auch seine Eltern und Geschwister sind. Mehr als um das Ereignis geht es Hohler in seiner Novelle um das Schwanken der Betroffenen zwischen diffuser Angst und gespielter Gelassenheit angesichts der drohenden und durch unzählige Vorzeichen sich ankündigenden Katastrophe. Das Scheitern des gesunden Menschenverstands vor dem Unfassbaren der Naturgewalt zeigt Hohler mit einem geschickten Kunstgriff aus der Perspektive der siebenjährigen Katharina Disch. Das ist nicht einfach ein fauler Trick des Erzählers, sondern dieser macht sich eine Analogie zwischen der kindlichen Wahrnehmung, die man nicht mit Naivität gleichsetzen darf, und dem Verhalten der Erwachsenen vor der jedes verstandesmässige Begreifen übersteigenden Gefahr zunutze. Vielem aus der Erwachsenenwelt steht das Kind verständnis-, doch nie ganz ahnungslos gegenüber. Die bevorstehende Geburt etwa eines Geschwisters ist ihm ein unheimliches Rätsel und Anlass für zahllose und unbeantwortete Frage. Es spürt lediglich, dass es entfernt damit zu tun haben muss, «was man nachts hinter dem Haus tat, wenn man alt genug war dafür». In der gleichen Ratlosigkeit, mit der das Kind der Erwachsenenwelt begegnet, sind die Erwachsenen vor der drohenden Naturgewalt befangen. Im Unterschied zu diesen aber scheut sich das Kind nicht, die zwar naiven, aber instinktiv richtigen Fragen zu stellen. War, so wundert es sich angesichts der mit Furchtlosigkeit sich brüstenden Erwachsenen, Noah ein Angsthase, nur weil er die Warnung Gottes nicht in den Wind schlug? War der Grossvater etwa ein Angsthase, weil er sein Leben nicht für den General Suworow hatte aufs Spiel setzen wollen? Anders als die Erwachsenen lässt sich das Mädchen von seinem Gefühl leiten: es kennt keine falsche Scham und tut, was ihm eine innere Stimme befiehlt. Während die Grossmutter, bei der das Mädchen für einige Tage zu Besuch war, ins Tal hinuntersteigt und damit ins Verderben geht, lässt sich das (scheinbar) verstockte Kind nicht bewegen, zu seinen Eltern zurückzukehren. Es bleibt oben und in Sicherheit vor den das Dorf unter sich begrabenden Felsmassen. Wirkungsvoll und sehr zurückhaltend hat Franz Hohler seinen Kunstgriff eingesetzt. Gleichzeitig aber erweist sich die doch sehr eingeschränkte Optik eines siebenjährigen Mädchens auf Dauer nicht als tragfähig genug für das erzählte Geschehen. Denn naturgemäss vermag nicht alles, was aus der Augenhöhe eines Kindes erzählt wird, den Leser gleichermassen zu fesseln. Wo dies freilich gelingt, da entwickelt Franz Hohlers «Steinflut» einen grossen erzählerischen Sog. Roman Bucheli
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